Der heitere Totentanz

Eine besondere Begegnung

Die Ruhe des verwunschenen Friedhofs in der schwäbischen Kleinstadt hüllte mich ein. Wie stets, wenn ich eine Pause vom Trubel brauchte, flüchtete ich mich in das Dämmerdunkel des alten Gottesackers, unter dessen mächtigen Baumfittichen ich mich geborgen fühlte und geschützt wie nirgendwo sonst. Niemand begegnete mir auf dem vertrauten überwachsenen Pfad in den ältesten Teil des Friedhofs, wo in einer vergessenen Ecke sich mein Bänkchen an den rauen, zerfurchten Stamm einer alten Trauerweide schmiegte.
Doch heute hatte der stille Winkel schon einen Besucher. Unschlüssig blieb ich stehen und überlegte, ob ich nicht umkehren sollte, denn ich wusste, wie unwillkommen eine Störung sein konnte.
„Kommen Sie ruhig“, sagte der Mann auf dem Bänkchen, „kommen Sie. Wer den Weg in diesen Winkel findet, hat ein Recht darauf, hier zu sein.“ Er rückte einladend zur Seite. Zögernd nahm ich Platz. Der Mann machte mich neugierig. Die Heiterkeit im klaren Blick seiner Augen in Verbindung mit einem Ausdruck stiller Wehmut faszinierte mich.
Das etwas wirre, altertümlich bis zum Kragen reichende graue Haar und die saloppe Kleidung, verwaschene Jeans und Wildlederjacke, schienen nicht zu der fast physisch spürbaren Gelassenheit und zentrierten Ruhe zu passen, die von ihm ausgingen. Es war ein rätselhafter Mensch, der da neben mir saß, und meine Neugier wuchs.
Der Mann hatte mich ebenso offen gemustert wie ich ihn, und er begann zu lächeln. „Es ist schön, eine verwandte Seele zu treffen“, sagte er nun, „das geschieht nicht oft.“
Ich hatte kurz die Augen geschlossen, als er zu sprechen begann, und die tiefe, volltönende, etwas raue Stimme schien direkt aus der Trauerweide hinter uns zu kommen. Fast erschrak ich, den Mann noch neben mir zu sehen, als ich die Lider wieder hob. „Verwandte Seele?“, fragte ich erstaunt,„wie können Sie das so sicher sagen?“
Das Lächeln wurde breiter. „So was spürt man einfach. Aber das wissen Sie selbst, nicht wahr?“ In seine Augen schlich sich ein amüsiertes Blitzen.
Ich hatte das Gefühl zu erröten, doch schließlich nickte ich: “Ja, ich weiß, man spürt solche Dinge. Und worin sind unsere Seelen verwandt?“
„Wir wissen beide, dass Weinen und Lachen die beiden Seiten derselben Münze sind. Wir wissen, dass im Weinen das Lachen schwingt und im Lachen das Weinen.“
„Im Weinen das Lachen“, wiederholte ich leise, „ja, das ist wohl wahr. Vielleicht sogar mehr als umgekehrt. Die Seele sehnt sich nach dem Lachen, wenn sie trauert, aber nicht nach dem Weinen, wenn sie lacht.“
„Sehen Sie“, sagte der Mann zufrieden, „ich hatte recht. Sie wissen darum.“
Ich nickte und wies auf eines der alten Gräber vor uns: „Es ist doch eigenartig, dass die Leute den Tod und alles, was damit zusammenhängt, so scheuen. Dabei ist es doch das einzige, was jedem Menschen mit Sicherheit bestimmt ist.“
„Da haben Sie Recht. Dabei denke ich oft, dass das vielleicht anders wäre, wenn die Menschen in unserem aufgeklärten Abendland den Trost des Wissens um die Wiedergeburt hätten, so wie die Hindus. Es gibt auch Kulturen, in denen eine Beerdigung das größte Fest ist.“
Ich nickte und eine Weile schwiegen wir.
„Ich glaube“, fuhr ich schließlich fort, „dass die Hinterbliebenen mehr um ihres eigenen Verlusts und Schmerzes willen weinen, als um den Verlust des Lebens dessen, der gehen musste. Wie oft hört man sagen: ‚Der Glückliche hat es hinter sich.’ Oder: ‚Ihr geht es jetzt gut.’ Das ist merkwürdig. Mir ist auch aufgefallen, dass große Denker viel über den Tod und das Sterben nachgesonnen haben und über die Frage, ob wir nicht nur einmal leben.“
„Ja!“, bestätigte mein Nachbar, „man muss sich mit dem Tod vertraut machen. Solange man Angst davor hat, lässt man sich nicht wirklich auf das Leben ein. Dabei gibt es nicht nur Trauer und Verzweiflung im Zusammenhang mit diesem Thema. Es gibt eine Unzahl merkwürdiger und komischer Geschichten dazu, bis hin zu Beerdigungen voller Lachen.“
Ich blickte ihn zweifelnd an.
„Doch, doch! Sie dürfen mir schon glauben!“, bekräftigte er mit einem humorvollen Funkeln in den Augen, „und vielleicht sind gerade solche Geschichten dazu angetan, den Zugang zum Thema für die Menschen zu erleichtern. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen eine dieser Geschichten. Sie ist in meiner eigenen Familie geschehen.“
Die Szene hatte etwas Unwirkliches. Die Sonne malte zitternde Blätterschatten auf die alten Gräber, das Rauschen der geschäftigen Welt außerhalb der Friedhofsmauern verklang zu einem Murmeln. Und hier saß ich neben einem Fremden, der mir lustige Geschichten zum Sterben erzählen wollte! Es war bizarr.
Aber die Geschichtensammlerin in mir konnte der Verlockung nicht widerstehen. Ich hob zögernd die Schultern, doch dann sagte ich: „Ja … ja … gerne. Erzählen Sie.“
Ich lehnte mich entspannt gegen den alten Baum und die wohltönende Stimme entführte mich in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.

 

Eine Prise vom Opa

Mein Urgroßvater mütterlicherseits muss, wie die Fama sagt, ein äußerst vergnügter Mensch gewesen sein, der wusste, was er wollte. Ein sehr ehrenwerter, wahrheitsliebender Mensch war er, und seine Fabrik in dem kleinen Städtchen am Neckar bescherte der Familie ein wohlhabendes, sorgenfreies Leben.
Er stand mit beiden, sehr stämmigen Beinen fest auf der Erde, und wenn er auch Wert darauf legte, dass die Familie bei aller Wohlhabenheit bescheiden blieb, war er weltlichen Genüssen durchaus zugetan und er mochte fröhliche Gesichter in seiner Umgebung.
Er rauchte leidenschaftlich gern dicke Zigarren, und er rauchte entschieden zuviel.
„Egon, rauch nicht so viel“, sagte einmal jemand zu ihm, „jede Zigarre, die du rauchst, ist ein Nagel zu deinem Sarg.“
„Na und“, gab er zur Antwort, „und wenn mein Sarg von oben bis unten wie ein Igel aussieht vor lauter Zigarren, ich rauche trotzdem.“
Er war ein freidenkender, kritischer Mann und sicher hatte seine Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge Anteil daran, dass er in manchen Dingen auch recht exotische Meinungen vertrat. Wichtig war ihm, sicherzustellen, dass nach seinem Ableben die sterblichen Überreste dem Feuer überantwortet und in einer schlichten Urne beigesetzt würden.
Vier Töchter zeugte er, deren älteste meine Großmutter war. Eine der Schwestern starb in jungen Jahren an Tuberkulose. Die drei anderen heirateten in angemessenem Alter. Die so in die Familie aufgenommenen Schwiegersöhne wurden so manches Mal zu einem fröhlichen Umtrunk eingeladen und es mag bei einer solchen Gelegenheit geschehen sein, dass der Urgroßvater seinen vielzitierten und -belachten Ausspruch tat.
„Seid fröhlich, Freunde“, sagte er, „die Zeiten sind ernst genug. Ich sag’ euch was: Wenn ich nicht mehr bin, stellt ihr meine Urne auf den Schrank, und dann schnupft ihr in traurigen Zeiten einfach eine Prise vom Opa und – schon seid ihr lustig! Prost!“
Die Schwiegersöhne erzählten ihren Frauen diese Geschichte und sie machte die Runde in der Familie. Doch dann geriet sie allmählich wieder in Vergessenheit, denn der Opa war noch rüstig und gab keine Veranlassung, an sein Ableben zu denken.
Nach einigen Jahren jedoch wurde der Großvater plötzlich krank und ehe jemand damit gerechnet hätte, schloss er die Augen und starb.
In einer großartigen Trauerfeier nahmen Familie, wichtige Ortsgrößen und die Belegschaft der Fabrik vom Seniorchef Abschied, dessen sterbliche Überreste anschließend in dem soliden Eichensarg ins Krematorium der nahen Kreisstadt gebracht wurden.
Heute werden Urnen mit der Post verschickt, damals war es so, dass der Behälter, der die kostbare Asche barg, selbst abgeholt werden musste. Glücklicherweise war die Familie im Besitz eines Opel-Automobils. Zwei der Schwiegersöhne starteten also am späten Morgen des Tages, an welchem die Urne im engsten Familien- und Freundeskreis beigesetzt werden sollte, in Richtung Kreisstadt, während sich langsam die große Familie zusammenfand, um am frühen Nachmittag dem Opa das letzte Geleit zu geben.
Auf der Heimfahrt saß mein Großvater, damals noch ein junger Mann, hinter dem Steuer, sein Schwager, mit der Urne zwischen den Knien, auf dem Beifahrersitz. Er musste sie gut festhalten, denn sie war schwerer als er gedacht hätte.
Die Stimmung war ernst, und mein Großvater beeilte sich, so schnell wie möglich zu fahren, denn die Trauerfamilie wartete nur noch auf die Urne. Plötzlich vernahm der Chauffeur ein unerhörtes Geräusch. Er fuhr zu seinem Schwager herum und sah zu seinem Entsetzen, wie dieser sich vor Lachen über der Urne krümmte.
„Viktor! Bist du verrückt geworden? Ich finde das äußerst pietätlos! Hör sofort auf zu lachen!“
Doch Viktor drehte sich zu ihm um und keuchte, von unkontrollierbarem Gelächter geschüttelt: „Komm, Ernst, komm! Wir nehmen mal ’ne Prise vom Opa!“
Ernst trat auf die Bremse, brachte das Fahrzeug mit Mühe am Straßenrand zum Stehen und brach wiehernd über dem Steuer zusammen. Minuten später fuhren die beiden weiter, nachdem sie den verzweifelten Versuch, ernst zu werden, aufgegeben hatten. Von Lachanfällen geschüttelt strebten sie der Villa zu, in der die ganze Familie voller Trauer wartete.
Endlich erklang das ersehnte Motorengeräusch, und man sah durchs Fenster das Auto in der Garage verschwinden. Wer nicht kam, waren die beiden Schwiegersöhne mit der Urne. Die Trauergesellschaft wurde unruhig. Etwas musste geschehen sein. Schließlich begab sich der dritte Schwiegersohn in die Garage, um den beiden anderen Beine zu machen. Zum außerordentlichen Erstaunen der Versammelten kam auch er nicht wieder.
Da meinte der beste Freund des Verblichenen: „Da hört sich doch alles auf! Was denken die sich denn? Denen werde ich zeigen, was sich gehört!“, und er machte sich ärgerlich auf den Weg.
Die Unruhe der Zurückgebliebenen wandelte sich in Bestürzung, als auch dieser nicht zurückkam. Jetzt wurden die Trauergäste sehr besorgt. Die drei Schwestern eilten in die Garage, um nach ihren Männern zu sehen und – kamen nicht wieder. Eine Tante, ein Onkel nach dem anderen gingen zur Garage, ohne wiederzukommen.
Zuletzt war nur noch die bekümmerte Witwe übriggeblieben, die sich schließlich zwischen Zorn und Besorgnis schwankend zur Garage aufmachte.
Schon von weitem hörte sie etwas, das sie nicht glauben konnte: Wieherndes Gelächter drang aus der Garage ………..