Das Gebildbrot

Kai hatte es geschafft. Er hatte die Lehrstelle! Und anstatt auszuflippen vor Freude, war er eher wie betäubt. Alles war irgendwie unwirklich und als die Uhr der Marienkirche schlug, wunderte er sich, dass es schon kurz vor Mitternacht war. Er musste sich beeilen, wenn er seinen Zug noch erreichen wollte.
Kai hatte einen schweren Kopf, aber das war okay. Man musste doch feiern, wenn man einen Ausbildungsplatz im absoluten Traumberuf fand. Er hatte es immer Jürgen Klinsmann, seinem Idol, gleichtun wollen, der auch Bäcker gewesen war. Obwohl … Bempflingen … das hätte nicht unbedingt sein müssen. Gegen Tübingen war Bempflingen … na ja … Bempflingen halt.
Aber das Bäckerhaus Veit war als guter Ausbildungsbetrieb bekannt. Das allein zählte.
Kai rülpste laut, und zwei Nachtschwärmer schauten ihn missbilligend an.
„Tschulligung, sollte ein Lied werden“, rief er ihnen zu.
Er fürchtete, sich übergeben zu müssen.
„Scheiß Schnaps“, murmelte er, als er in die Gasse beim Reformhaus einbog. Er konnte keine Zeugen seines Elends brauchen.
Kai blieb stehen und stützte sich an einem Brunnen ab. Trotz der mangelhaften Beleuchtung konnte er erkennen, dass rund herum lauter Figuren in kleine Nischen eingelassen waren. Direkt vor sich sah er eine Szene aus einer Backstube. Kai blinzelte, schloss die Augen und öffnete sie wieder. Er sah immer noch einen Bäcker in der Backstube.
„So was“, staunte er und hob die Hand, um die Figur zu berühren. Doch diese drehte sich unter seiner Hand. Kai verlor das Gleichgewicht, stürzte und schlug mit der Stirn an die Brunnensäule. Das letzte, was er hörte, war die Kirchturmuhr, die Mitternacht schlug.

„He, Geselle, was treibest du hier im Kot?“
Irgendjemand rüttelte Kai unsanft an der Schulter. Benommen richtete er sich auf, hob den Kopf und starrte den Mann an, der sich über ihn beugte. Bestimmt träumte er noch. Oder war gerade Mittelaltermarkt?
Der Mann war vielleicht vierzig Jahre alt. Ungewaschene Haare hingen ihm bis zu den Schultern und auf dem Kopf trug er eine sonderbare Mütze. Noch merkwürdiger war seine Hose, die genaugenommen gar keine war. Kais Schwester trug so was zu Röcken und nannte es Strumpfhose. Ein Kittel hing bis zu den Schenkeln und war mit einem Gürtel zu einer Art Rock zusammengezogen. Was Kai aber fast den Magen umdrehte, war der Geruch. Der Mann stank und war schmutzig.
„Äh, mal ganz tranquilo, Kumpel. Ich bin mit dem Kopf an den Brunnen geknallt und war kurz weg. Das ist alles.“ Damit erhob er sich.
Der Fremde machte große Augen, als Kai stand, denn dieser überragte ihn um anderthalb Köpfe. „Deyne Amme muss dich wohl genährt haben. Du hast eyn groß Maß in der Höh“, sagte er schließlich.
Der hat einen an der Klatsche, dachte Kai. „Amme? Meine Amme hieß Alete und war ein Brei. Und wenn du mich für groß hältst, müsstest du mal meinen Bruder sehen, der ist eins neunzig. Wer bist du eigentlich? Und solltest du dich nicht mal waschen?“
„Eyn sonderbar Red machst du. Doch kommst du wohl aus fernem Land, da soll’s dir nachgesehen werden. Und ich bin Albrecht genannt, Backer allhier.“
„Bäcker? Sagtest du Bäcker?“ Kais Verwirrung wuchs.
„Mag seyn, dass in fremdem Lande man Bäcker saget. In dieser Gemeynd saget man Backer.“
Kai fiel erst jetzt auf, dass die gedämpfte Helligkeit, die die kleine Gasse in ein geheimnisvolles Licht tauchte, lediglich vom fast vollen Mond kam. Das Straßenpflaster war verschwunden und die Häuser für seine Begriffe verwahrlost und ziemlich klapprig.
„Was ist denn hier passiert? Wo ist denn das Pflaster? Und die Häuser … !“ Kai verstummte, denn ihm kam ein so verrückter Verdacht, dass er nur eine Ausgeburt seines schnapsumnebelten Gehirns sein konnte.
Albrecht beobachtete ihn interessiert.
„Sag mal“, setzte Kai an, verstummte und nahm erneut Anlauf. „Welches Datum haben wir heute?“
„Eben grade seit zween Minuten der vierundzwanzigst Tag im Juno anno eyntausendvierhundert dreißig und fynf. Warum fragest du? Hast du des Mosts ohn Maßen genossen?“
Das war zu viel. Kai wandte sich ab und übergab sich an der Mauer eines der alten Häuser. Erschöpft richtete er sich auf. Plötzlich öffnete sich ein Fenster über ihm und ein haubenverzierter Kopf fuhr heraus, an dem zwei dünne graue Zöpfchen baumelten.
„Entschuldigung … “, setzte Kai an, doch er wurde unterbrochen.
„Wollt ihr wohl heimgehn, Hadergelump, versoffenes! Vergällen rechtschaffen Volk den Schlaf. Da! Das könnt ihr saufen, Lumpenpack.“ Mit diesen Worten kippte die Alte den reichlichen Inhalt eines Nachttopfes über Kai und schloss das Fenster mit lautem Knall.
Albrecht packte Kai am Arm und zog ihn weg. „Mir scheinet, du brauchst eyn Wassertrog und eyn ander Hemd. Komm mit! Im Backhaus ist immer warm. Und ich muss den Teig kneten, damit in der Fruh das Brot im Laden lieget.“
Kai ließ alles teilnahmslos geschehen. Entweder hatte er einen Traum, der so real war, dass es eigentlich kein Traum sein konnte, oder das hier geschah wirklich, dann war er irgendwie ins Mittelalter geraten.
Nach einem kurzen Weg durch Gassen, die er noch nie gesehen hatte, obwohl er sich in Reutlingen etwas auskannte, betrat Albrecht ein Haus, wandte sich nach rechts, öffnete eine Tür und schob Kai in einen Raum, in dem dieser sich sofort zu Hause fühlte. Er war in einer Bäckerei. Einer seltsamen zwar, aber eindeutig einer Bäckerei.
Ein gemauerter Holzbackofen von beeindruckender Größe nahm fast ein Viertel des Raumes ein. In einem großen Trog ruhte ein fertiger Teig, der darauf wartete, verarbeitet zu werden. Zwei große Schieber für die Brotlaibe standen an der Wand. Und so schmutzig der Bäcker war, so sauber war die Backstube.
„Möcht meyn Gast nicht auch seyn Namen sagen?“, bat Kais Gastgeber.
„Kai.“
Albrecht hob die Brauen. „Eyn sonderbar Name möcht ich meynen. Doch nun kannst dich säubern. Du stinkst.“
Dem hatte Kai nichts entgegenzusetzen. Er wusch sich so gut er konnte an einem Wassertrog im Flur, den schmuddeligen Kittel daneben ließ er jedoch liegen. Schließlich ging er in die Backstube zurück, wo Albrecht gerade einen Batzen Teig zornig in den Trog zurückwarf.
„Was ist denn?“, fragte Kai und warf einen Blick in den Trog. Ein Hefeteig, soviel erkannte er, und zwar ein feiner.
Albrecht seufzte vernehmlich. „Es will nicht gelingen, eyn absonderlich Gebäck zu machen, das noch keyn Aug gesehn.“
„Warum sollst du das?“
„Weil eyn Wett hier laufet, wer zu Dreikönig das best Gebildbrot, das noch keyn Aug gesehen, dem Herzog Friedrich zur Hand geben könnet, des Titel wird seyn herzoglich Hofbacker und er werd zween Silbergroschen erlangen.“
Gebildbrot? Kai furchte die Stirn. Davon hatte er doch schon gehört. Richtig! Das war … aber … das konnte doch nicht sein.
„Sag mal, Albrecht, hast du auch einen Nachnamen?“
„Du meinest den Vatersnamen? Ich bin Mutschler genannt.“
Also doch. Kai wurde ganz aufgeregt. „Ich kann dir helfen!Ich werde auch Bäcker und hab schon viel gebacken.“
Albrecht runzelte zweifelnd die Stirn. „Und was soll deyn Gebildbrot darstellen?“
„In der Mitte die Achalm, die steht auf einem Stern. Dreikönig, verstehst du? Und jede Zacke ist verziert.“
Albrecht riss die Augen auf. „Eyn neu Idee, fürwahr. Wollest du mir anzeigen, wie das gehet?“
„Aber gern!“
„Nimm, was vonnöten ist aus dem Troge. Ich feure den Ofen. Um diese Stund wird der Nachtwächter keyn Lärm schlagen. Backer feuern stets frühe.“
Kai holte einen der Schieber, legte einen Batzen Teig darauf und rollte ihn zu einem dicken Kreis aus. Einen kleineren Kreis setzte er darauf und die Spitze krönte er mit einem Teigwürfel. Dann schnitt er den Rand achtmal ein.
„Fürwahr, eyn Stern“, staunte Albrecht, der herzugetretenen war. „Das ist eyn wundersam Brot.“ Er beugte sich fasziniert vor und verfolgte gespannt, was Kai zauberte.
Was Albrecht wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass ich schon oft Mutscheln gebacken hab, dachte Kai und grinste, während er die letzten Zacken mit kleinen Brezeln, Zöpfen und Schnecken verzierte.
„So“, sagte er schließlich aufatmend, „jetzt noch Eigelb zum Einpinseln, dann kann es in den Ofen.“
„Eyn Ei ist ein kostbar Ding“, meinte Albrecht, „eyn Tröpfleyn Milch mag genügen.“
Albrecht tauchte einen Lappen, der auf dem Tisch lag, in einen Milchtopf und wischte über den Teig. Dann ergriff er den Schieber, auf dem das Gebilde lag und schob es gekonnt in den Ofen.
Ich wüsste nicht, wann das rausmuss, dachte Kai, ich kann nur elektrisch.
Doch Albrecht holte das Gebäck im richtigen Moment aus dem Ofen und sah zum ersten Mal sein nie zuvor gesehenes Gebildbrot.
Er hatte Tränen in den Augen, als er sich umwandte und Kai anschaute. „Du hast eyn Wunder getan. Ich werd sicherlich die Wett gewinnen. Wie nennt sich dies Brot?“
„Du kannst ihm einen Namen geben.“
„Fürwahr, eyn großzügig Gesell bist du. So nenn ich es eyn Mutschler. Nach meim Vatersnamen.“
Kai lächelte.
„Komm an meyn Busen“, rief Albrecht überschwänglich und streckte die Arme nach Kai aus. Dieser trat erschrocken einen Schritt zurück, stolperte und fiel gegen den Ofen. Dann wurde es dunkel.

„Aufwachen! Aufwachen!“
Kai öffnete die Augen. Über sich sah er den Gildebrunnen, der im Licht der Straßenlaterne golden leuchtete.
„Albrecht?“, fragte Kai verwirrt.
„Nicht wirklich, Junge. Kannst du aufstehn?“
Mühsam erhob sich Kai und hielt sich an dem Brunnen fest.
Vor ihm stand ein älterer Mann, der ihn besorgt musterte.
„Geht’s wieder? Was ist denn passiert?“
„Ich hab grade die Mutschel erfunden“, murmelte Kai.
Der Mann lachte. „Jaaa, klar. Kann ich dich allein lassen?“
„Klar“, sagte Kai. „Wieviel Uhr ist es?“
„Null Uhr zehn.“
„Erst? Dann schaff ich meinen Zug um 00:30 noch. Danke, es geht jetzt“, sagte Kai und trottete Richtung Marktplatz davon.
Der Mann sah ihm irritiert nach. „Die Mutschel erfunden“, lachte er und ging Richtung Albtorplatz weiter, „Sachen gibt’s. Die Mutschel … ich glaubs ja nicht.“
Langsam verklangen seine Schritte.

 

Zunftbrunnen   Bäcker   Marienkirche

Reutlinger Mutschel