Sie ist nur unsichtbar

… sie ist nur unsichtbar

„Nein, Papa, nicht schon wieder.“
„Lara, du weißt doch, ich …“
„Ja, ja, ja! Du hast einen Eid abgelegt …“
„Eben! Ich werde gebraucht.“
„Wir brauchen dich auch. Und heute ist dein freier Tag“, warf Lara verzweifelt ein.
„Es gab eine Massenkarambolage mit Schwerstverletzten und Toten, Schatz. Sie brauchen jede Hand. Soll ich sagen, ich kann nicht kommen, weil ich mit meinen Töchtern Rommé spielen muss?“
Lara ließ den Kopf hängen. Sie wusste, wann sie verloren hatte. „Nein!“, sagte sie leise.
Dr. Wenzel nahm seine Älteste in den Arm. „Du bist doch meine Große. Und, Liebes, bitte lies Emma Pu der Bär vor, sonst schläft sie nicht.“
Lara wurde bockig. „Wieso ich? Emma kann doch schon lesen!“
„Laraaa! Mit siebzehn solltest du vernünftiger sein. Ich muss jetzt los. Ich verlass mich auf dich.“
Lara schaute ihrem Vater durchs Fenster nach und wandte sich zu ihrer kleinen Schwester um, die im Nachthemd, ihren Kuschelbären im Arm, unter der Tür stand.
„Liest du mir Pu der Bär vor?“, fragte Emma hoffnungsvoll.
Lara verschränkte die Arme vor der Brust. „Das brauch ich nicht. Du kannst selbst lesen, Emma Schulkind!“
„Aber Mama hat mir immer …“
„Mama ist tot und ich bin nicht Mama!“
Emmas Augen füllten sich mit Tränen. „Nein, ist sie nicht! Sie ist im Himmel und schaut auf uns runter. Sie ist bloß unsichtbar.“
Lara wusste, dass nicht richtig war, was sie tat, aber sie war so wütend, dass sie nicht anders konnte.
„Mama IST tot und jetzt geh ins Bett und lies Pu der Bär.“
Emma schaute Lara lange schweigend an und ihre Unterlippe zitterte. „Ich hab recht“, sagte sie ernst und wandte sich ab. „Ich hab recht“, wiederholte sie, schon im Flur, „und Mama ist immer bei mir.“ Die Härchen auf Laras Armen richteten sich auf und sie fühlte sich elend.
Sie warf sich in ihrem Zimmer aufs Bett und griff nach den Kopfhörern. Nur Samu Habers Songs füllten diese Leere, in der die Wut lauerte, die sie immer weniger unterdrücken konnte. Dabei wusste sie nicht einmal, woher sie kam. Langsam entspannte sie sich wieder und vergaß die Zeit.

Als sie die Augen öffnete, umgab sie Dunkelheit. Lara richtete sich auf und erschrak. Emma! Sie hatte ihr nicht einmal Gute Nacht gesagt und schämte sich dafür. Leise öffnete sie die Tür zu Emmas Zimmer und schlich sich zum Bett.
„Nein!“ Lara wurde eiskalt. Emma war weg.